Inkontinenz nach Geburt: Experteninterview

Prim. Fuith über Häufigkeit, Formen, Risikofaktoren und Therapie von Inkontinenz nach Geburt

Prim. Lothar Fuith zu Inkontinenz nach Geburt

Aus Studien wissen wir, dass viele Frauen schon in der Schwangerschaft an Harninkontinenz leiden. Bei vielen bleibt die Inkontinenz nach Geburt bestehen. Über Zahlen, Risikofaktoren und Therapieoptionen habe ich mich mit dem Gynäkologen Prim. Lothar Fuith unterhalten

RH: Wie viele Frauen sind von Inkontinenz nach Geburt betroffen?

Prim. Fuith: Viele! Mindestens 30% haben in der Schwangerschaft schon Harn verloren. Das wissen wir aus sehr großen Studien mit 10.000 Teilnehmerinnen aus dem skandinavischen Raum. Das ist nicht so wenig. Aber das sind allesamt ehr große Studien. Und man weiß, dass die Frauen, die schon in der Schwangerschaft von Harninkontinenz betroffen sind, dann auch ein erhöhtes Risiko haben danach inkontinent zu sein, bzw. zu bleiben. Da muss man etwas tun. Ich bin der Meinung, man sollte jedoch auf gar keinen Fall unmittelbar nach der Geburt an irgendeine Operation denken. Das wird gelegentlich gemacht, das halte ich aber für Unsinn. Man muss auf jeden Fall dem Gewebe Zeit geben, sich zu erholen und Beckenbodentraining machen. Da ist dann wieder Ihre Berufsgruppe gefragt.

RH: Welche Formen von Inkontinenz nach Geburt treten auf?

Prim. Fuith: Hauptsächlich die Belastungsinkontinenz. Aber auch die überaktive Blase kann eine Rolle spielen. Aber nach der Entbindung ist es dann die Belastungsinkontinenz. Und man muss auch dazu sagen, wenn man nach den 6 Wochen die postpartale Nachkontrolle macht, sieht man schon auch Senkungszustände, die Sie dann ein Jahr später so nicht mehr sehen. Das heißt, das Gewebe kann sich noch erholen.

RH: Woher weiß eine Frau, dass sie eine Belastungsinkontinenz hat?

Prim. Fuith: Das häufigste Symptom ist, beim Husten und Niesen, Harn zu verlieren. Aber natürlich nur, wenn die Blase gefüllt ist. Also zum Beispiel beim Heben vom Kind.

RH: Was ist denn nun normal? Wenn 30% danach inkontinent sind?

Prim. Fuith: Das ist eine schwierige Frage. Also ich sag, ich würde jetzt nicht jeden Harnverlust, der nach einer Geburt auftritt, pathologisieren. Ich würde das nicht überbewerten. Man muss nicht gleich an eine Operation denken. Aber die Frauen sollen ihren Beckenboden trainieren, die Erstgebärende ist da besonders gefährdet. Auch Frauen mit Dammrissen brauchen unbedingt eine Physiotherapie. In England bekommt eine Frau, die eine Dammriss III oder höher hatte auf jeden Fall im Rahmen des stationären Aufenthaltes einen Kontakt mit der Physiotherapie. Wenn Wochenende ist, dann muss die Frau dort anschließend zu Hause sogar kontaktiert werden, um einer Physiotherapie zugeführt zu werden. In Österreich undenkbar. Bei uns wollen auch sehr viele Frauen am ersten Tag nach Haue gehen. Aber die wissen sozusagen gar nicht, was sie da wollen. Weil dann braucht man ein Umfeld. Also eine betreuende Hebamme! Natürlich kann jede Frau heim gehen, wann sie will! Aber wer macht die Bilirubin Kontrollen beim Kind, wer macht den Hörtest, wer macht die Physiotherapie?

RH: Wann muss die Inkontinenz nach Geburt aufgehört haben?

Prim. Fuith: Wenn er in den ersten Wochen auftritt, okay, aber wenn das nach einem halben Jahr oder Jahr noch immer ist, dann muss man schon überlegen.

RH: Gibt es Risikofaktoren eine Harninkontinenz nach Schwangerschaft zu bekommen?

Prim. Fuith: Ja! Das ist der „traumatische Geburtsverlauf“ also die Zangengeburt oder eine schwere Vakuumextraktion (Geburt mittels Saugglocke). Und die protrahierte Austreibungsperiode zählt ebenfalls zu den Risikofaktoren. Das sind die Fakten. Klar, dann noch die Adipositas und das Alter der Mutter, Inkontinenz schon in der Schwangerschaft, höhergradige Dammrisse. Vor allem auch in Richtung der Stuhlinkontinenz sind höhergradige Dammrisse ein Problem. Also da gibt es Risikofaktoren für Inkontinenz nach Geburt. Die Frage ist, wie sind die zu vermeiden? In den letzten Jahren war immer der Hauptfokus die Gesundheit des Kindes! Natürlich. Aber die Gesundheit der Mutter gehört auch dazu. Die kommt ja gar nicht oft vor in geburtshilflichen Vorträgen. Der traumatische Geburtsverlauf ist ja nur Thema, wenn mit dem Kind was ist. Aber dass der dann auch ein Fakt für die Mutter ist, wird nicht häufig thematisiert, vielleicht auch nicht gerne. Also unter traumatischem Geburtsverlauf versteht man Vakuumextraktion oder Forceps. (Saugglockengeburt oder Zangengeburt)

Lange Austreibungsphase – Gefahr für den Beckenboden

Und es ist offenbar besser, da gibt es mehrere Publikationen dazu, einen protrahierten Geburtsverlauf mit einer Vakuumextraktion zu verkürzen, als das bis zum letzten Exzess durchzustehen. Und ich sag es nochmal. Da müssen wir auch die Hebammen ins Boot holen, das muss ich jetzt leider kritisch sagen. Ich bin kein Kaiserschnittbefürworter, aber man muss schon eines sagen: Nur zu sagen, wir schaffen das noch und jetzt hängen wir noch eine Stunde bei der Austreibungsperiode dran. Wir wissen was am Beckenboden passiert. Der Beckenboden, das sind Muskel, die bekommen durch den langen Druck des kindlichen Kopfes Schäden. Ich mach mir da Sorgen! Und als Arzt muss ich mich nach den Fakten richten, die wir aus Studien kennen. Der Arzt muss sich sowohl für das Wohl des Kindes, aber auch um jenes der Mutter sorgen.

Die unbefriedigendste Kombination für eine Frau, aus meiner Sicht ist, eine „halbe vaginale Geburt“ und „eine ganze Sectio“. Mit diesen Frauen machen wir an unserer Abteilung in jedem Fall ein Aufarbeitungsgespräch, weil hier viele offene Fragen sind. Was auch zu Unzufriedenheit im Ärztepersonal führt. Weil da sagen mir dann meine Assistentinnen und die Hebamme: „Wir haben uns bemüht, aber das ist dann eben nicht gegangen, weil das Kind hat nicht mit gemacht, und dann hat die Frau doch noch die Sectio gebraucht.“ Da besprechen wir den Verlauf noch mal. Und dann erklären wir, dass die Frau sich sehr, sehr geplagt hat, das Kind aber trotzdem noch nicht weit genug unten war, um mit der Saugglocke zu helfen und dass es noch 2-3 Stunden gedauert hätte und wir dieses Risiko für das Kind und den mütterlichen Beckenboden nicht eingehen konnten. Das verstehen die Frauen dann. Der Großteil zumindest. Manche fragen, warum wir das nicht früher gewusst haben. Aber das ist die Ausnahme. Die meisten verstehen es dann.

Kaiserschnitt schützt nicht vor Inkontinenz im Alter

Aber bezüglich der Inkontinenz nach Geburt habe ich vorhin noch vergessen zu sagen. Es ist ja so, dass Frauen, die einen Kaiserschnitt haben, auch inkontinent werden können. Die Quote ist folgendermaßen: Nullipara (Frauen, die kein Kind geboren haben) haben mit 65 am wenigsten Inkontinenz. Frauen, die eine Sectio (Kaiserschnitt) hatten, die haben schon ein bisschen mehr. Und die mit einer oder mehr Geburten haben noch mehr Inkontinenz. Im höheren Alter verwischen sich die Zahlen immer mehr. Das kann man ganz emotionslos sagen. Im Alter kommt vieles andere noch dazu.

RH: Kann man vorbeugend etwas gegen Harninkontinenz nach Schwangerschaft tun?

Prim. Fuith: Ja! Ich sag es nochmal. Wenn Beckenbodentraining therapeutisch einen Sinn hat, dann gehen wir davon aus, dass es auch prophylaktisch einen Sinn hat. Da gibt es ja auch Daten, also Studien dazu, die das belegen.

RH: Wenn eine Frau nun betroffen ist, an wen kann sie sich wenden? Wer ist die erste Anlaufstelle?

Prim. Fuith: Da wird es schon schwierig! Ich sag jetzt mal so, ich fürchte dass die niedergelassenen Gynäkologen das Thema gar nicht ansprechen, oder ansprechen wollen. Das ist ein großes Problem. Grundsätzlich wäre, wenn man nicht schon vorher im Geburtsvorbereitungskurs informiert wird, dass man vor der Geburt und nach der Schwangerschaft das machen soll, das Beckenbodentraining, wäre natürlich der niedergelassene Arzt oder die Ärztin, schon eine Ansprechstelle, aber ich habe auch kein Problem, wenn sich die Frauen direkt an Sie wenden. Was ja auch häufig passieren wird. Aber da sind wir wieder bei einem anderen Thema, es gibt Studien, dass ja nicht einmal die Hälfte der Patientinnen, die Harninkontinenz haben, das dem Hausarzt offenbaren. Also bis eine Frau das raus rückt, vergehen Jahre.

RH: Wir gehen davon aus, die Frau hat den Weg zur Therapie gegen die Inkontinenz nach Geburt gefunden. So, und jetzt wird sie allen Erwartungen zum Trotz nicht wieder kontinent? Ab wann muss da genau geschaut werden und was wird dann geschaut?

Prim. Fuith: Da muss man dann eine so genannte Urodynamik machen. Damit kann man genau schauen, wo ist das Problem. Sie muss jetzt nicht den wahnsinnigen Deszensus haben, ein schwacher Verschlussdruck, eine hypotone Urethra, oder es kann mit Nervenverletzungen zu tun haben. Wenn die Therapie mit Beckenbodentraining, welches konsequent über Monate durchgeführt wurde, nicht anschlägt, dann ist für die Frau ein von der MKÖ zertifiziertes Beckenbodenzentrum zuständig. Da gibt es in Wien eines. Und was die nicht selber wissen, werden sie sich die Expertise dazu holen. Zum Beispiel wenn Urologe oder Gynäkologe eine Nervenverletzung vermuten, werden sie einen Neurourologen beiziehen. Weil das ist ja der Sinn eines Beckenbodenzentrums.

RH: Vielen Dank für das Gespräch!

Prim. Fuith: Vielen Dank!

Univ. Prof. Dr. Lothar Clemens Fuith
Primarius am Krankenhaus d. Barmherzigen Brüder
Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe
Vorstand der Abteilung für Frauenheilkunde und Geburtshilfe in Eisenstadt
Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (ÖGGG).
Präsident der Medizinischen Kontinenzgesellschaft (MKÖ)
Ausbildung:
Medizinstudium Univ. Innsbruck; Promotion 1979
Postgraduelle Tätigkeit:
1979 bis 1982 Universitätsassistent am Institut für Medizinische Chemie und Biochemie an der Universität Innsbruck. (Prof. H. Grunicke und Prof. H. Wachter)
1981 Forschungsaufenthalt am Weizmann Institute of Science in Israel. (Prof. Gad Yagil)
Ab 1982 Assistenzarzt und Oberarzt an der Universitätsklinik für Frauenheilkunde Innsbruck. (Prof. O. Dapunt)
Akademischer Werdegang:
1991 Habilitation zum Universitätsdozenten mit dem Thema:
„Neue Aspekte in der Therapie des Ovarialkarzinoms“.
Ernennung zum a.o. Universitätsprofessor 1998.
Kontakt:
Krankenhaus der Barmherzigen Brüder:
Johannes von Gott-Platz 1
7000 Eisenstadt
02682/601-3500
Lothar.Fuith@bbeisen.at
Ordination:
Dr. Karl Rennerstrasse 66
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02682/66713